Schnecken – kleine, grossartige Schleimer
Der Feind in meinem Garten
Wer diesen Sommer mit Gärtnerinnen oder Gemüsebauern sprach, hörte immer wieder dasselbe: «Schnecken! Schnecken, diese hinterhältigen, verfressenen Scheusale!» «Fast alle Setzlinge haben sie auf dem Gewissen, vor nichts machen sie Halt und fressen bevorzugt meine zartesten, jüngsten, schönsten Pflänzlein!» «Eine grässliche Schleimspur zieht sich bis in meine Küche!» Schnecken dienen deshalb als Feindbild schlechthin.
Schnecken ernähren sich vielseitig und fressen keineswegs nur grüne, frische Blätter. Das Spektrum reicht bei den Landschnecken von vermodernden Pflanzenteilen, über Kot und Aas bis hin zu Blüten und Früchten.
Alle Schnecken haben Fühler, die sie vollständig einziehen können. Sie brauchen diese für die Nahrungssuche. Bild: Zbigniew Twardowski, Wikipedia
Mit ihren Fühlern können Schnecken bevorzugte Nahrung orten und prüfen. Die meisten Landschnecken besitzen zwei Paar Fühler. Die Augen, die auf dem längeren der beiden Fühlerpaare sitzen, spielen eine untergeordnete Rolle. Schnecken erkennen zwar Bewegungen (z.B. von Fressfeinden) und können auch ein entferntes Objekt dank ihrer Augen ansteuern. Für die nähere Wahrnehmung ihrer Umwelt sind aber ihre «Tastfühler», das kürzere, untere Fühlerpaar zuständig. Vergleichbar mit dem Blindenstock einer sehbeeinträchtigten Person kundschaften Schnecken ihre unmittelbare Umgebung ohne Unterlass ab. Dabei spüren integrierte Sinneszellen in den Fühlern interessante Nahrung geruchlich auf und prüfen sie auf ihren Geschmack. Sie entscheiden also, ob und was sich eine Schnecke mit ihrer Raspelzunge einverleiben soll.
Schnecken nehmen ihre Nahrung über einen hornigen Oberkiefer und eine bewegliche, mit vielen Zähnen besetzte Raspelzunge (Radula) auf. Bild: Wikipedia
Schnecken fressen Schnecken!
Schnecken bevorzugen sterbende (welke) und tote Pflanzen. Wie die meisten tierischen Vegetarier können auch sie grüne Pflanzen, die hauptsächlich aus Wasser und Zellulose bestehen, nicht selbst verwerten. Mikroorganismen, Pilze und Bakterien, die auf absterbenden Pflanzenresten leben, übernehmen die Vorverdauung der Zellulose. Gleichzeitig decken sie auch den Eiweiss-Bedarf der Schnecken, wenn sie mitgefressen werden. Als eigentliche Muskelpakete brauchen Schnecken viel Protein. Am meisten davon liefern Beutetiere, aber Schnecken sind viel zu langsame Jäger. Sie begnügen sich mit genannten Winzlingen. Ausserdem fressen Schnecken auch Aas. Dazu gehören manchmal sogar tote Artgenossen. Schnecken fressen Schnecken!
Aas ist ein wertvolle Proteinquelle für Tiere, auch für Schnecken. Bild: Kjetil Lenes, Wikipedia
Alles Leben entstand im Wasser – auch die ersten Schnecken
Schnecken sind uralt. Vor 530 Millionen Jahren entstanden ihre Vorfahren im Meer. Diese ersten Schnecken besassen Kiemen und trugen ein Häuschen. Im Folgenden steht statt Häuschen jeweils Gehäuse, wie es wissenschaftlich heisst. Zwar ist so ein Gehäuse schwer und schränkt die Mobilität der Schnecke ein. Dafür bietet es ununterbrochen Schutz. Schon frischgeschlüpfte Schnecklein tragen ein winziges Gehäuse und behalten dieses zeitlebens. Im Gegensatz dazu müssen Insekten, Krebse oder Schlangen regelmässig sprichwörtlich aus ihrer Haut fahren, weil ihre Körperhülle nicht mitwächst. Jedes Mal legen sie sich ein neues Kleid zu und müssen in dieser Zeit in Deckung bleiben, um nicht leichte Beute zu werden. Schnecken bleibt dies erspart.
Schon frisch geschlüpfte Schnecklein tragen ein Gehäuse. Im Bild eine junge Schnecke. Bild: Alex Geiger
Versteinerte Gehäuse frühster mariner Schneckenarten haben sich als Fossilien erhalten. Auch die ältesten Schneckenfossilien des Naturmuseums Olten stammen von Meeresbewohnern aus dem Erdmittelalter und sind 190 Millionen Jahre alt.
Alle heutigen Nacktschnecken stammen von gehäusetragenden Vorfahren ab. Im Bild Pleurotomaria (191–183 Mio. Jahre alt), eine häufige Schnecke im Jurameer. Bild: Pia Geiger
Während Jahrmillionen lag die Region Olten unter einem Meer. Mal war es flach und warm, geprägt von Korallenriffen und tropischen Lebewesen. Dann wieder ein tiefes Meer mit gefürchteten Räubern wie Fischsauriern. An der Küste gab es Landsaurier, Schildkröten, Krokodile… und erste Landschnecken.
Die heutige Schnecken-Fauna der Schweiz umfasst über 250 einheimische Arten. Sie teilen sich auf in Wasserschnecken (51 Arten), Landschnecken mit Gehäuse (168 Arten) und solche ohne Gehäuse, die als Nacktschnecken (35 Arten) bezeichnet werden (Boschi 2011). Aber was zeichnet eine Schnecke aus? Was haben diese unterschiedlichsten Lebewesen gemeinsam?
Der Italiener Carlo Pollonera (1849–1923) nahm sich Schnecken als Studienobjekten an, sowohl als Malakologe (Schneckenforscher) wie auch als Maler. Bild: Wikipedia
Kopffuss, Mantel und Gehäuse – äusserer Bauplan der Schnecken
Der Körper von Schnecken besteht nicht wie bei uns Menschen oder Insekten aus klar voneinander getrennten Einheiten und Gliedern. Stattdessen sind Kopf und Fuss, auf dem die Schnecke dahingleitet, verbunden. Deshalb nennt sich dieser Teil der Schnecke auch Kopffuss. Unter dem Mantel befinden sich die inneren Organe. Viele Schnecken mit Gehäuse können ihren Körper gänzlich einziehen und sind dann quasi in ihren Mantel eingehüllt. Daher der Name. Bei Nacktschnecken dagegen ist der Mantel zu einem Schild reduziert. Aus diesem mündet die Atmungsöffnung, wobei die Lage derselben ein wichtiges Bestimmungsmerkmal ist.
Bei der Familie der Wegschnecken zu der Arion rufus zählt, liegt die Atemöffnung im Mantelschild (Körperteil ohne Runzeln) vor der Mitte. Bild: Colin Erickson
Das Gehäuse besteht aus zwei Lagen, einer anorganischen (Kalk) und einer organischen (gegerbtes Protein). Drüsen, die am Mantelrand sitzen, scheiden nach innen zur Hauptsache Kalk aus. Auf der Kalkschale des Gehäuses liegt eine zweite Lage, das Periostracum. Es besteht aus Conchiolin, einem komplexen Protein, das für die unterschiedlichsten Farben, Muster und den Glanz des Gehäuses verantwortlich ist. Diese äussere Schicht kann sich abnutzen und verwittern, was bei leeren Gehäusen (also nach dem Tod einer Schnecke) sehr oft eintritt. Schnecken können ihre Gehäuse durch Kalkausscheidungen reparieren, nicht aber die «Lackschicht». Deshalb fehlen auf den «Flicken» auch alle Strukturen, also beispielsweise Spirallinien, Rippen oder manchmal sogar feine Härchen.
Auf dem reparierten Teil (siehe Pfeil) des Gehäuses dieser Weinbergschnecke fehlen die Querbänder und Spirallinien, genauso wie die Zuwachsstreifen. Letztere entstehen wie die Jahrringe bei Bäumen. Das Wachstum des Gehäuses erfolgt nicht kontinuierlich, sondern ist z.B. von winterlichen Ruhephasen unterbrochen. Bild: Pia Geiger
Aus kalkhaltigem Schleim besteht auch der «Deckel», mit dem landlebende Schnecken ihr Gehäuse in der kalten Jahreszeit verschliessen. Alle Schnecken sind für die Überwinterung auf frostsichere, feuchte Orte angewiesen. Manche graben sich im Boden ein, andere suchen unter feuchtem Laub, in natürlichen oder menschgemachten Höhlen und Stollen Zuflucht, oder warten unter Steinen oder im Moos auf mildere Temperaturen.
Erlebbare Vielfalt
Schneckenhäuschen können selbst innerhalb derselben Art sehr vielfältig sein. Deshalb eignen sie sich vorzüglich dazu, genetische Vielfalt zu erklären. Die Erbanlagen (Gene) bestimmen das Aussehen jedes Lebewesens. Jede Art kennt stabile Merkmale wie zum Beispiel den Mündungsrand des Gehäuses der Hainschnirkelschnecke (Cepaea nemoralis). Er ist bei dieser Schnecke immer gleich dunkel gefärbt und für die Artbestimmung wichtig. Variabel dagegen sind die Farbe und die Bänderung des Gehäuses der Hainschnirkelschnecke.
Gehäuse der Hainschnirkelschnecke in der Dauerausstellung des Naturmuseums Olten – genetische Vielfalt sorgt für Variantenreichtum. Bild: Naturmuseum Olten
Getarnte leben länger
Nicht nur die Genetik, sondern auch Fressfeinde wie die Singdrossel (Turdus philomelos) bestimmen, welche Gehäuse-Variante in einem Lebensraum am häufigsten ist. Ungebänderte Schnecken mit hellem Gehäuse fallen im dichten Grün auf und werden dort eher gefressen. In offenen Lebensräumen dagegen verschmelzen sie mit den Farben ihrer Umgebung. Die Tarnung verschafft ihnen und gleich gefärbten Nachkommen einen Überlebensvorteil.
Wenn die Singdrossel zuschlägt, nützt Schnecken selbst ihr Gehäuse nichts. Im Bild eine Drosselschmiede voller kaputter, leerer Schneckenhäuschen. Bild: Wikipedia
Haarige Schnecken - wie es zu diesem Blog kam
Was wie ein Scherz klingt, gibt es wirklich! Auch in der Schweiz leben Landschnecken, deren Gehäuse Haare zieren.
Auf einem Waldspaziergang habe ich diesen Sommer wieder einmal eine solche haarige Schnecke auf einem Baumstrunk entdeckt. Eine kleine Häuschenschnecke, schwarz glänzend der muskulöse Körper, von rötlichbrauner Farbe ihr Gehäuse und darauf eine Vielzahl feiner Haare. «Das arme Tier ist wohl verpilzt!» schoss es mir durch den Kopf, als ich einer solchen Schnecke erstmals begegnete. Beim näheren Betrachten verwarf ich diesen Erklärungsversuch. Zu regelmässig sind die Härchen angeordnet. Ausserdem erblickte ich sogleich ein zweites, drittes Schnecklein von gleichem Aussehen. Für ihresgleichen fast schon schnell krochen sie an mir vorbei. Was hat es mit den Haaren auf sich? Sind haarige Schnecken eine seltene Laune der Natur? Wie können Haare aus einem Kalkgehäuse spriessen? Und zu welchem Zweck?
Haarschnecken wie diese gemeine Haarschnecke (Trochulus hispidus) sind an feuchten, schattigen Orten anzutreffen. Bild: Axel Mauruszat
Haarige Verwandtschaft
Haare tragende Gehäuse kommen in verschiedenen Familien der Schweizer Schneckenfauna vor. Innerhalb der Laubschnecken (Hygromiidae) gibt es alleine schon ein Dutzend Arten, die in ihrem deutschen Namen als «Haarschnecke» bezeichnet werden. Ihre Gehäuse sind, zumindest bei Jungtieren, mit Haaren bestückt. Bei Individuen mit ausgewachsenem Gehäuse (das Gehäuse wächst nicht zeitlebens mit) können diese Haare allerdings nur noch teilweise vorhanden sein oder ganz fehlen. Oberflächlich sind auf dem Gehäuse allerdings zeitlebens und auch bei fossilen Schneckenhäusern kleine Dellen sichtbar, wo die Haare ursprünglich sassen.
Als Teil des Periostracums, also der äusseren Schale des Gehäuses, entstehen auch die Haare aus Drüsensekret. Die Produktion derselben und ihre Befestigung ist enorm aufwendig und komplex. Erst für einige Arten ist sie genauer erforscht.
Haare erhöhen die Haftung
Jede kostspielige Struktur in der Natur sollte einen Vorteil für ihren Besitzer haben. Sonst wird sie im Laufe der Evolution irgendwann wieder verloren gehen. Das gilt auch für ein haariges Gehäuse. Bloss welchen Vorteil soll es haben, wenn eine Kalkschale mit Haaren bestückt ist? Haare erhöhen die Haftung. So sind zum Beispiel auch die Fusssohlen von Baummardern und Eichhörnchen mit Haaren bestückt, damit sie noch besser klettern können. Und bei Schnecken mit behaartem Gehäuse?
Im Experiment krochen Haarschnecken der Gattung Trochulus unter feuchten Bedingungen zwar deutlich langsamer (sie brauchten mehr Kraft). Vermutlich haben sie dafür deutlich besseren Halt als haarlose Individuen. Das ist praktisch, weil Schnecken der Gattung Trochulus unter feuchten Bedingungen bevorzugt auf Blättern von Pflanzen mit hohen Stengeln wie Brennesseln oder Huflattich leben. Fielen die Schnecken von diesen Futterpflanzen runter, müssten sie sich von neuem einer kostspieligen Kletterpartie hingeben.
In trockenen Lebensräumen nutzen Härchen nichts. Entsprechend leben alle Härchen tragenden Landschnecken in feuchten Lebensräumen.
Der Wasserfilm des Blattes haftet an den Härchen des Gehäuses und sorgt für bessere Haftung dieser zottigen Haarschnecke (Trochulus villosus). Bild: Wikipedia