An der Spitze
Carnivoren – vom Leben als Fleischfresser
Lebensgrundlage Fleisch, aber nicht nur
Wenn im Folgenden von Luchs, Bär und Wolf die Rede ist, sind der Eurasische Luchs (Lynx lynx), der Braunbär (Ursus arctos) und der Grauwolf (Canis lupus) gemeint. Luchs, Wolf und Bär sind Raubtiere. Sie müssen jagen, um Beute zu machen. Während der Luchs ein ausschliesslicher Fleischfresser ist, ernährt sich der Bär zu einem erheblichen Teil auch von Pflanzen (Gräser, Kräuter, Beeren, Früchte, Nüssen und Wurzeln) und sehr kleinen Beutetieren, nämlich staatenbildenden Insekten wie Ameisen und Bienen. Auch Wölfe können gelegentlich Insekten oder Beeren als Ergänzung zu sich nehmen. Dieser Blog nimmt die drei Grossraubtiere und ihre Lebensweise als Fleischfresser unter die Lupe.
Grossraubtiere sind Besuchermagnete, auch im Naturmuseum Olten.
Fleischfresser brauchen Platz
Das Pinselohr, wie der Luchs auch genannt wird, ist ein Einzelgänger und jagt allein. Auch der Wolf kann einzeln jagen, bevorzugt aber eine koordinierte Jagd im Familienverband (Rudel). Typischerweise besteht es aus den beiden Elterntieren und den Nachkommen der letzten beiden Jahre. Gemeinsam sind Wölfe effizienter und können grössere Beutetiere überwältigen. Bevorzugt fressen sie – wie auch der Luchs – wildlebende Huftiere, nämlich Rehe, Rothirsche oder Gämsen. Die Verbreitung und Bestandesdichte dieser Beutetiere bestimmen die Grösse ihrer Territorien.
Durchschnittlich braucht ein Luchsmännchen (Kuder) 150 km2, eine Luchsin 100 km2 Platz zum Leben. Wölfe dagegen benötigen oft ein Vielfaches dieser Fläche, damit sie genügend Beute für ihr Rudel finden. Im Gegensatz dazu hat der Bär kein eigentliches Territorium, das er verteidigt und markiert, sondern ein Streifgebiet. Je nach Geschlecht und Verfügbarkeit der Nahrung ist es unterschiedlich gross und kann sich mit demjenigen von Artgenossen überlappen. In den Alpen ist das Streifgebiet einer Bärin durchschnittlich 245 km2, das eines männlichen Bären im Schnitt rund 1340 km2 gross.
Typischer Lebensraum des Luchses im Solothurner Jura. Foto: Peter F. Flückiger
Fleisch hat seinen Preis
Für alle Tiere besteht die Notwendigkeit, dass sich Kosten und Nutzen beim Nahrungserwerb, inklusive der Verdauung, die Waage halten. Fleisch hat einen hohen Nährwert und ist wesentlich leichter verdaulich als Pflanzenkost. Aber Fleisch hat seinen «Preis». Für Topprädatoren, die in der Regel Beutetiere jagen, überwältigen und schliesslich fressen, gehört Hunger zum Alltag.
Zwar sind der Bär und auch der Wolf jahreszeitlich in der Lage, sich teilweise pflanzlich, also zum Beispiel im Sommer von Beeren und Früchten, zu ernähren. Pflanzenkost deckt aber nie ihren ganzen Energiebedarf. Von den drei Grossraubtieren Luchs, Wolf und Bär vermag einzig der Letztgenannte sich Fettreserven anzufressen und eine Winterruhe zu halten.
Grossraubtiere legen oft grosse Distanzen zurück, bevor sie auf ein geeignetes Jagdgebiet stossen. Und dann ist längst nicht jeder Angriffsversuch erfolgreich. Abwarten, einen neuen Angriff vorbereiten oder weiterwandern?
Luchs, in die Fotofalle getappt. Foto: Andreas Studer
Lauerjäger Luchs
Der Luchs ist ein Pirschjäger. Sein Jagderfolg ist umso wahrscheinlicher, je näher er an seine Beute herankommt. Nun gilt es, den richtigen Moment abzuwarten. Im Sprung versucht der Luchs die Beute mit den Krallen seiner Vorderpranken zu fassen, um sie mit einem einzigen gezielten Biss in die Kehle zu töten. Pro Woche benötigt er ein grosses Beutetier, bevorzugt ein Reh oder eine Gämse. Nach jedem Mahl deckt er seine Beute mit Pflanzenteilen zu, damit sie nicht von Aasfressern entdeckt wird. Nacht für Nacht kehrt er zurück und frisst sie schliesslich ganz auf. Einzig Knochen und Magen des Beutetiers lässt er zurück.
Luchs auf der Jagd: Vom Lauern, Anschleichen, bis zum finalen Sprung auf die Beute.
Zwischen Mai und Juni kommen die 1–4 Luchsjunge zur Welt. Nach neun Wochen in einem sicheren Versteck, in denen sie ausschliesslich von Muttermilch leben, nimmt die Luchsin ihre Kleinen mit zu einem Riss, d.h. zu einem erbeuteten Tier. Sie lernen nun in den nächsten Monaten von ihr, wie Beute gemacht, zerlegt und in welcher Reihenfolge sie gefressen wird. Im nächsten Frühling, mit etwa zehn Monaten, müssen die Jungluchse ihre Mutter verlassen.
Mit Glück wird wenigstens einer der vier Luchse ein eigenes Revier finden. Auf dieser Abwanderung müssen sie offene Landschaften durchqueren, Strassen und andere Barrieren überwinden. Dabei sind sie mit einer immer stärker durch Verkehrsträger und Siedlungen zerstückelten Landschaft konfrontiert. Kollisionen mit Fahrzeugen und der Umstand, dass Übergänge über stark befahrene Strassen und Bahnlinien (Grünbrücken) fehlen, sind Grund für eine hohe Sterblichkeit dieser abwandernden Luchse beziehungsweise ihre Rückkehr in die Nähe ihres Ursprungsgebiets. Eine neue Gefahr, Inzucht und dadurch genetische Verarmung, droht damit.
Jüngst wurden Luchse mit fehlenden Ohrmuscheln im Kanton Jura fotografiert. Die drei Individuen, die diese Missbildung zeigten, sind Geschwister. Unklar ist zwar noch, ob es sich bei der Missbildung tatsächlich um einen Gendefekt handelt und ob dieser durch Inzucht bedingt ist. Dass die genetische Vielfalt der Luchspopulation im Jura erhöht werden muss, soll sie denn überleben, ist indes gesichert.
Luchsin mit vier Jungtieren an einem frisch gerissenen Rehbock bei Grenchen. Aufnahme vom 9. September 2015. Fotofallenbild: Adolf Hess
Angriffsjäger Wolf
Wölfe versuchen Beute zu machen, wann immer sich eine günstige Gelegenheit bietet. Meist kommt es zu einer mehr oder weniger langen Hetzjagd, bei der sie ihr Opfer schliesslich stellen und durch Kehlbisse töten. Es trifft deshalb öfters junge unerfahrene, ältere oder kranke Tiere, aber nicht nur.
Pro Tag braucht ein Wolf durchschnittlich vier Kilogramm Fleisch. Wenn er Beute machen kann, frisst der Wolf davon so viel er nur kann. In der freien Wildbahn kehrt er zu dieser zurück und nutzt sie möglichst vollständig. Anders verhält es sich bei Nutztieren. In einer gezäunten Weide kann ein Wolf auch mehrere Tiere töten, also viel mehr, als er aufs Mal zu fressen vermag. Flüchtende Tiere lösen den Tötungsinstinkt des Wolfes aus. Der Anblick eines gerissenen Schafes kann schockieren und für viel Unverständnis sorgen, aus nachvollziehbarem Grund vor allem bei den betroffenden Tierhalterinnen und -halter.
Deutlich sind die verlängerten Eckzähne, wie sie typisch sind für Raubtiere, im Gebiss des Wolfes erkennbar. Sie dienen zum Festhalten und Töten der Beute. Der vierte obere Backenzahn bildet mit dem ersten unteren Backenzahn (hinter der Zunge im Unterkiefer erkennbar) eine sogenannte Reissschere. Damit können Raubtiere effizient Fleisch schneiden.
Allesfresser Bär
Obwohl der Bär zu den Grossraubtieren zählt, ist er ein Allesfresser. Trotz seiner Grösse und Kraft frisst er vor allem Pflanzen, aber auch Insekten und Aas. Wenn er grössere Beute schlägt, tötet er diese meist mit mehreren Prankenhieben auf Kopf und Nacken.
Diese Flexibilität erlaubt es dem einzelgängerischen Bären, über den Sommer beträchtliche Fettreserven anzufressen. Um bis zu ein Drittel schwerer als im Frühjahr, geht er im Herbst in die Winterruhe, die er in einer Höhle verbringt. Seinen Stoffwechsel drosselt der Bär zwar nicht so sehr wie eigentliche Winterschläfer, z.B. das Murmeltier. Der Herzschlag und die Körpertemperatur sind aber reduziert und er scheidet während der Winterruhe weder Kot noch Urin aus. Für die Bärin endet die Winterruhe, mit der Geburt ihrer Jungen.
Der Bär nutzt seine starken Pranken zum Graben, wenn ihn ein verheissungsvoller Geruch in die Nase steigt.
Die kleinen Bärchen, üblicherweise 2–3, wiegen bei der Geburt anfangs Jahr (Wurfzeit: Januar bis Februar) nur wenige hundert Gramm und sind gerade mal so gross wie ausgewachsene Eichhörnchen. Bis sie im Frühling (April bis Mai) erstmals die Wurfhöhle verlassen, werden sie – allein dank der Muttermilch – mehr als ein Zehnfaches (!) an Körpergewicht zulegt haben. Die Bärin hat ihre Fettreserven gänzlich aufgebraucht und ist nun völlig ausgehungert. Sprichwörtlich mit Bärenhunger nimmt sie von Fallwild (Kadaver von durch Krankheit oder Unfälle eingegangenen Wildtieren, z.B. Lawinenopfern) über frische Kräuter alles zu sich, um rasch wieder zu Kräften zu kommen.
«Bärendreck» – Kot eines Bären, in der Dauerausstellung des Naturmuseums Olten
Bärenjunge sind auf die Führung ihrer Mutter angewiesen. Während zweier Jahre folgen sie ihr mehr oder weniger auf Schritt und Tritt und lernen, insbesondere wo sich welche Nahrung finden und wie sie sich behändigen lässt. Diese lange Lernzeit hat zur Folge, dass die Bärin höchstens alle zwei Jahre Junge bekommt.
Grossraubtiere in der Schweiz
Grossraubtiere gehören zur einheimischen Fauna. Aber sie polarisieren seit jeher, was letztlich Hauptgrund für ihre Ausrottung in der Schweiz war. Ihre Rückkehr in den Alpenraum ist Ausdruck davon, was internationale Schutzgesetze bewirken können. In der Schweiz haben sich Wölfe und Luchse in den letzten zwei Jahrzehnten etabliert. Mittlerweile leben rund 300 Wölfe bei uns (Stand April 2024) und über 200 Luchse. Dagegen ist der Bär weiterhin nicht wieder in der Schweiz heimisch. Im Jahr 2023 konnte in unserem Land gar nie ein Individuum nachgewiesen werden.
Für ein Nebeneinander von Menschen und Grossraubtieren braucht es artspezifische Konzepte (siehe z.B. Konzept Wolf) und gesetzliche Grundlagen (siehe Eidgenössisches Jagdgesetz und die dazugehörige Jagdverordnung). Entscheidender als all diese Regelwerke ist, dass die Bestandesentwicklung von Wolf und Luchs genau verfolgt wird, dass Kompromisse beim Bestandesmanagement möglich sind und vor allem aber, dass das Zusammenleben mit Grossraubtieren als gesehen wird. So könnte die Anwesenheit von Grossraubtieren dereinst als Gütesiegel für den Naturwert einer Region dienen.
Der Wolf von Hägendorf riss im Sommer 1990 innert zwei Wochen 30 Schafe in den Kantonen Solothurn und Basel-Landschaft, ehe er zum Abschuss freigegeben wurde. Woher er kam, konnte nie geklärt werden.
Wolfsmanagement in der Schweiz
Grossraubtiere, insbesondere der Wolf, können Nutztiere wie Schafe oder Ziegen, selten auch Rinder, Esel oder Alpakas reissen. Nachdem 1872 der letzte wildlebende Wolf in der Schweiz erlegt wurde, dauerte es über hundert Jahre, bis die ersten Wölfe wieder in die Schweizer Alpen einwanderten. Im Jahr 1990 hielt ein einzelner Wolf über Wochen das Baselbiet und den Kanton Solothurn in Atem. In Hägendorf, wo er in der Nacht zuvor vier Schafe gerissen hatte, wurde er schliesslich erlegt. Seine untypisch kaum abgenutzten Krallen liessen den Verdacht vermuten, es handle sich um einen Gefangenschaftsflüchtling. Seine Herkunft konnte nie geklärt werden.
Erst 1995 wanderten erste Wölfe aus Italien in die Schweiz ein. Ein erstes Rudel bildete sich erst im Jahr 2012, mit der erfolgreichen Fortpflanzung eines Wolfspaars im Calanda-Massiv (Graubünden). Seither ist der Wolfsbestand in der Schweiz auf 31 Rudel in sechs Kantonen gestiegen (Stand April 2024).
Schicksal der Grossraubtiere: So sehr sie faszinieren, so wenig Toleranz wird ihnen bisweilen entgegengebracht.
Mit der Wolfspräsenz gehen auch Risse von Nutztieren einher, insbesondere dann, wenn diese «einfach» zugänglich sind. In der Schweiz sind es vor allem Schafe, die Wölfe insbesondere auf ungeschützten Alpen töten. Viel mehr Schafe und Ziegen im Sömmerungsgebiet sterben allerdings nachweislich an Krankheiten und Unfällen (Abstürze, Stein- oder Blitzschlag). Nutztierrisse, die nachweislich auf Wölfe zurückgehen, werden gemeinsam von Bund (80 %) und Kantonen (20 %) entschädigt, wenn auf den entsprechenden Alpen Herdenschutzmassnahmen (insbesondere Herdenschutzhunde, elektrische Zäune, sowie die Behirtung von Schafherden mit Schutzhunden) getroffen wurden (siehe Konzept Wolf). Diese Massnahmen sind zwar kosten- und zeitintensiv, aber besonders in Kombination wirksam, Nutztiere vor Angriffen zu schützen und werden ebenfalls vom Bund (BAFU) mitgetragen. Die Kantone Graubünden und Glarus konnten damit die Anzahl Nutztierrisse erheblich reduzieren (mehr dazu hier).
Indirekte Nachweise von Wildtieren, zum Beispiel durch Fährten im Schnee oder Losungen (Kot) sind vor allem im Winter möglich. Im Bild eine Wolfslosung.
Mit der Anpassung der Eidgenössischen Jagdverordnung ist es den Kantonen seit 1. Dezember 2023 möglich, stärker und proaktiv in den Wolfsbestand einzugreifen. Der Wolf bleibt aber eine geschützte Tierart in der Schweiz. Seine Bestandeszunahme (2023 wurden 115 Jungwölfe in der Schweiz geboren) und Ausbreitung sollen aber verlangsamt werden.